Mertik-Karneval

Die wachsende staatliche Einflussnahme auf Arbeit, Freizeit und gesellschaftliche Einstellung führte in den ausgehenden 50er Jahren in der Bevölkerung zu weiterer Abwanderung von Künstlern, Gewerbetreibenden und Kleinunternehmern. Die recht unabhängig agierenden karnevalistischen Nachkriegsgesellschaften hatten dadurch verstärkt unter dem Wegfall von Privatspendern und Mitgliederschwund zu leiden. So stellten viele Interessengemeinschaften, wie auch die Arbeitsgemeinschaft „Münzenberger Karneval“ in Quedlinburg, ihre karnevalistischen Aktivitäten ein. Nur närrische Enklaven vor allem in der südlichen Provinz und in Hoch- und Fachschulstädten überlebten diese Zeit. In Quedlinburg wurde Anfang der 60er Jahre ein weiteres Kapitel Karnevalsgeschichte aufgeschlagen: Unter Trägerschaft des „VEB Meßgerätewerk Quedlinburg“, einem Quedlinburger Großbetrieb, durfte in der Lehrwerkstatt der Betriebsberufschule wieder Fasching gefeiert werden. In Zusammenarbeit mit närrischen Arbeitern und Angestellten, unter Gesamtleitung von Dieter Ibe und Hilmar Dehmel, fand am 11.11.1963 im Saal der Walzengießerei die erste Karnevalveranstaltung im klassischen Stil statt. Der damalige Direktor der Betriebsberufschule, Gottfried Andrusch, überreichte Prinz Eckehard I. und seiner holden Gemahlin feierlich den Schlüssel der Lehrwerkstatt. Der Lehrkörper der BBS und Ingenieure des Betriebes mit BGL-Vorsitzenden Thomas Keilbert an der Spitze stellten den Elferrat. Das Funkenballett kam aus der Lehrwerkstatt. Die jungen Damen wurden von einer Theaterchoreografin trainiert. In der Bütt präsentierte sich unter anderem Walther Dierig als Idiot. Das Programm der närrischen Betriebskarnevalisten fand sehr viel Anklang und wurde jedes Jahr zum 11.11. neu gestaltet.

1964 führte man es sogar im damaligen Kreiskulturhaus auf. Eine regelmäßige Veranstaltung im November war auch der Auftritt bei den Westerhäuser Geflügelzüchtern. Er sicherte jedes Jahr den passenden Weihnachtsbraten für die Akteure. Anfang der 70er Jahre gaben sich die Betriebsnarren einen passenden Namen die „MERTIKKÜSSE“. Jeder Buchstabe stand für ein Elferratsmitglied. Zum besonderen Ereignis wurden die Rosenmontagssitzungen im neuen Quedlinburger Motel. Der Höhepunkt des Abends war dabei das hauseigene Damenballett. Die Eintrittskarten für diese Veranstaltung wurden bald als Bückware wie Bananen unter dem Ladentisch gehandelt. Mit Einweihung des betriebseigenen Klubhauses konnten sich die Narren richtig entfalten. Nach der traditionellen Eröffnungsveranstaltung am 11.11. feierte man am Fastnachtsfreitag mit der Jugend. Der Sonntagvormittag blieb dem Kinderfasching vorbehalten und am Abend wurde das neue Prunksitzungsprogramm vorgestellt. Nach der Rosenmontagssitzung im Motel fuhr man Dienstag zur Fastnacht mit eigenen Programmpunkten nach Thale. Die Abschlussveranstaltung am Aschermittwoch fand für die Rentner wieder im Mertik-Klubhaus statt. Unter dem Motto „Alt Berlin“ starteten die MERTIKKÜSSE 1973 ihr erstes themenbezogenes Programm. Der Elferrat verkörperte Berliner Originale, das betriebseigene Männerballett stand als Tiller-Girls auf der Bühne und das Ballett aus Alt Berliner Göhren, Rhythmen der 70er und Gardetanz stellte die Tanzgruppe des IfL Quedlinburg und die Tanzschule Schinkel aus Thale. Als besonders gelungenes Programm galt das „Ferienheim Zur Fröhlichkeit“. Hiermit reiste das Ensemble sogar zu den Arbeiterfestspielen.

1976 fand in Stöckta bei Eisenach die letzte Veranstaltung der Mertikkarnevalisten statt. Ein Dorf lud zum Karneval, man reiste an und begeisterte das Publikum mit Eberhardt Lückes ortsspezifischer Mottorede, Walther Dierig als Harald Nielsen und Günther Müggenburg mit seiner Band. Meinungsverschiedenheiten führten zur Trennung der Karnevalisten. Die Betriebsberufschule des Meßgerätewerkes führte mit ihrem Lehrwerkstattfasching die Karnevaltradition bis zum Ende der 80er Jahre in bescheidener Form weiter. Auch im Motel wurde Rosenmontag weiterhin Fasching gefeiert. Bekannt sind zwei Karnevalveranstaltungen im Haus des Kulturbundes „Kunsthoken“, 1985 unter dem Thema „Münzenberger Karneval“ und 1986 als „Burgfasching“, organisiert von der Mertik-Betriebsmittelkonstruktion.
Wir danken Dieter Ibe für Geschichten, Hintergründe, Anekdoten und Walther Dierig für die sorgsam über die Zeit geretteten Bilder.